Lenin: Über Streiks

Aufgrund der aktuellen Situation und den heftigen Streiks und Klassenkämpfen in Frankreich, aber auch den langsam zunehmenden und größer werdenden Streiks in der Bundesrepublik, möchten wir auf einen leider eher unbekannten kurzen Text von Lenin hinweisen: „Über Streiks“, aus den Lenin Werken Band 4, S. 305-315. Trotz der Tatsache, dass der Artikel weit über 100 Jahre alt ist, ist er unserer Meinung nach gerade heute sehr aktuell und liefert einige wichtige Grundsätze, wie sich KommunistInnen zu Streiks der ArbeiterInnenklasse stellen müssen. Im Folgenden findet ihr ihn in Gänze wiedergegeben:

„Arbeiterstreiks sind in Rußland in den letzten Jahren außerordentlich häufig geworden. Es gibt kein einziges industrielles Gouvernement mehr, wo nicht mehrere Streiks stattgefunden hätten. Und in den Großstädten hören die Streiks überhaupt nicht mehr auf. Es ist deshalb begreiflich, daß sich sowohl die klassenbewußten Arbeiter als auch die Sozialisten immer häufiger mit der Frage beschäftigen, welche Bedeutung haben die Streiks, welches sind die Methoden zur Führung von Streiks, und welche Aufgaben haben die Sozialisten bei der Teilnahme an Streiks. Wir wollen versuchen, einige unserer Erwägungen zu diesen Fragen darzulegen. Im ersten Artikel wollen wir über die Bedeutung der Streiks in der Arbeiterbewegung überhaupt sprechen; im zweiten Artikel über die russischen Antistreikgesetze, im dritten über die Frage, wie die Streiks in Rußland geführt wurden und geführt werden und welche Stellung die klassenbewußten Arbeiter zu ihnen einnehmen müssen.

I

Vor allem ist die Frage aufzuwerfen, wodurch sich der Ausbruch und die Ausbreitung der Streiks erklärt. Jeder, der sich all die Streiks, die ihm aus persönlicher Erfahrung, aus Berichten anderer oder aus Zeitungen bekannt sind, in die Erinnerung zurückruft, wird sofort erkennen, daß Streiks dort ausbrechen und sich ausbreiten, wo große Fabriken entstehen und sich ausbreiten. Unter den größeren Fabriken, die mehrere Hunderte (zuweilen auch Tausende) von Arbeitern beschäftigen, wird sich kaum eine finden, in der es noch keine Arbeiterstreiks gegeben hätte. Als es in Rußland wenig große Fabriken und Werke gab, gab es auch wenig Streiks, seitdem aber die großen Fabriken sowohl in den alten Fabrikorten als auch in den neuen Fabrikstädten und Ortschaften rasch wachsen — seitdem werden die Streiks immer häufiger.

Wie kommt es, daß fabrikmäßige Großproduktion stets zu Streiks führt? Dies kommt daher, daß der Kapitalismus notwendigerweise zum Kampf der Arbeiter gegen die Unternehmer führt, und wenn die Produktion zur Großproduktion wird, so wird dieser Kampf notwendigerweise zum Streikkampf.

Wir wollen das erläutern.

Kapitalismus heißt eine Gesellschaftsordnung, in der der Grund und Boden, die Fabriken, die Maschinen und Werkzeuge usw. einer kleinen Anzahl von Grundbesitzern und Kapitalisten gehören, während die Masse des Volkes kein oder doch fast kein Eigentum besitzt und sich deshalb als Lohnarbeiter verdingen muß. Die Grundbesitzer und Fabrikanten stellen Arbeiter ein und lassen von ihnen diese oder jene Erzeugnisse herstellen, die sie dann auf dem Markt verkaufen. Dabei zahlen die Fabrikanten den Arbeitern so wenig Lohn, daß die Arbeiter mit ihren Familien kaum ihr Leben fristen können, während der Fabrikant alles, was der Arbeiter über diese Produktenmenge hinaus erzeugt, in seine Tasche steckt; dies bildet seinen Profit. In der kapitalistischen Wirtschaft arbeitet somit die Masse des Volkes für Lohn bei anderen Leuten, sie arbeitet nicht für sich selbst, sondern gegen Bezahlung für die Unternehmer. Es ist klar, daß die Unternehmer stets bestrebt sind, den Lohn zu senken: je weniger sie den Arbeitern geben, desto mehr Profit verbleibt ihnen. Die Arbeiter dagegen sind bestrebt, einen möglichst hohen Lohn zu erhalten, um die ganze Familie mit ausreichender und gesunder Nahrung versorgen, in einer guten Wohnung leben, sich nicht wie Bettler, sondern so wie alle anderen Menschen kleiden zu können. Somit wird zwischen Unternehmern und Arbeitern ein ständiger Kampf um den Arbeitslohn geführt: Der Unternehmer hat die Freiheit, sich den Arbeiter, den er einstellen will, nach Belieben zu wählen, und deshalb sucht er stets den billigsten. Der Arbeiter hat die Freiheit, sich den Unternehmer, von dem er sich einstellen lassen will, nach Belieben zu wählen, und er sucht sich den aus, der am meisten bietet, der ihn möglichst hoch bezahlt. Ob der Arbeiter auf dem Lande oder in der Stadt arbeitet, ob er sich an einen Gutsbesitzer oder an einen reichen Bauern, an einen Bauunternehmer oder an einen Fabrikanten verdingt — er handelt stets mit dem Lohnherrn, führt mit ihm stets einen Kampf um den Lohn.

Kann jedoch ein Arbeiter als einzelner diesen Kampf führen? Die Arbeiterbevölkerung wird immer zahlreicher: die Bauern werden ruiniert und fliehen aus den Dörfern in die Städte und Fabriken. Die Gutsbesitzer und Fabrikanten führen Maschinen ein, die den Arbeitern die Arbeit wegnehmen. In den Städten gibt es immer mehr Arbeitslose, in den Dörfern immer mehr Bettler; die hungernde Bevölkerung drückt den Lohn immer niedriger und niedriger. Es wird für den Arbeiter unmöglich, allein gegen den Unternehmer zu kämpfen. Wenn ein Arbeiter guten Lohn verlangt oder sich mit einer Lohnkürzung nicht einverstanden erklärt, so antwortet der Unternehmer ihm: Scher dich weg, es stehen viele Hungernde vor dem Tor, sie sind froh, auch für niedrigen Lohn arbeiten zu können. Wenn die Verelendung des Volkes so weit geht, daß es sowohl in den Städten als auch auf dem Lande ständig Massen von Arbeitslosen gibt, wenn die Fabrikanten riesige Reichtümer anhäufen und die kleinen Unternehmer von Millionären verdrängt werden, dann wird der einzelne Arbeiter dem Kapitalisten gegenüber völlig machtlos. Der Kapitalist erhält die Möglichkeit, den Arbeiter völlig zugrunde zu richten, ihn durch Zuchthausarbeit in den Tod zu treiben, und nicht nur ihn allein, sondern auch seine Frau und seine Kinder. In der Tat, man sehe sich die Gewerbezweige an, in denen sich die Arbeiter noch keinen gesetzlichen Schutz erkämpft haben und in denen die Arbeiter den Kapitalisten keinen Widerstand leisten können, und man wird einen maßlos langen Arbeitstag—der 17 bis 19 Stunden erreicht — finden, man wird Kinder im Alter von 5 bis 6 Jahren finden, die durch schwere Arbeit zugrunde gerichtet werden, man wird eine Generation ständig Hunger leidender und an Hunger allmählich hinsterbender Arbeiter finden. Ein Beispiel bieten die Arbeiter, die bei sich zu Hause für Kapitalisten arbeiten; ja jeder Arbeiter wird sich noch vieler, sehr vieler anderer Beispiele erinnern! Selbst unter der Sklaverei und unter der Leibeigenschaft gab es niemals eine so furchtbare Knechtung des arbeitenden Volkes wie die, bis zu der die Kapitalisten gehen, wenn die Arbeiter ihnen keinen Widerstand leisten können, wenn sie sich keine Gesetze erkämpfen können, die die Willkür der Unternehmer beschränken.

Um sich nun nicht in diese äußerste Lage treiben zu lassen, beginnen die Arbeiter einen verzweifelten Kampf. Da sie sehen, daß jeder von ihnen für sich allein ganz machtlos ist und daß ihm unter dem Joch des Kapitals der Untergang droht, beginnen die Arbeiter, sich gemeinsam gegen ihre Unternehmer zu erheben. Es beginnen die Arbeiterstreiks. Anfänglich begreifen die Arbeiter häufig nicht einmal, was sie erreichen wollen, sie sind sich nicht bewußt, weshalb sie das tun: sie zertrümmern einfach die Maschinen, zerstören die Fabriken. Sie wollen die Fabrikanten nur ihre Empörung fühlen lassen, sie erproben ihre gemeinsamen Kräfte, um aus der unerträglichen Lage herauszukommen, ohne noch zu wissen, weshalb eigentlich ihre Lage so hoffnungslos ist und was sie anstreben müssen.

In allen Ländern hat die Empörung der Arbeiter mit einzelnen Aufständen begonnen — mit Rebellionen, wie die Polizei und die Fabrikanten sie bei uns nennen. In allen Ländern haben diese einzelnen Aufstände einerseits mehr oder weniger friedliche Streiks und anderseits einen allseitigen Kampf der Arbeiterklasse für ihre Befreiung hervorgerufen. Welche Bedeutung haben nun Streiks (oder Ausstände) im Kampf der Arbeiterklasse? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir hier zunächst auf die Streiks etwas ausführlicher eingehen. Wenn der Lohn eines Arbeiters, wie wir gesehen haben, durch einen Vertrag zwischen Unternehmer und Arbeiter festgesetzt wird und der einzelne Arbeiter sich dabei als ganz machtlos erweist, so ist es klar, daß die Arbeiter ihre Forderungen unbedingt gemeinsam vertreten müssen, daß sie unbedingt Streiks organisieren müssen, um die Unternehmer an einer Lohnkürzung zu hindern oder einen höheren Lohn für sich zu erkämpfen. Und wirklich, es gibt kein einziges Land mit kapitalistischem System, wo es keine Arbeiterstreiks gäbe. In allen europäischen Staaten und in Amerika, überall fühlen sich die Arbeiter einzeln machtlos und können den Unternehmern nur gemeinsam Widerstand leisten, indem sie entweder in den Streik treten oder mit Streik drohen. Je weiter sich nun der Kapitalismus entwickelt, je rascher die großen Fabriken und Werke wachsen, je mehr die kleinen Kapitalisten von den großen verdrängt werden — desto dringender wird das Bedürfnis nach gemeinsamem Widerstand der Arbeiter, denn desto schlimmer wird die Arbeitslosigkeit, desto stärker wird die Konkurrenz zwischen den Kapitalisten, die ihre Waren möglichst billig produzieren wollen (und dazu ist es notwendig, die Arbeiter möglichst niedrig zu entlohnen), desto stärker werden die Schwankungen in der Industrie und die Krisen. Wenn die Industrie prosperiert, so erhalten die Fabrikanten große Profite, ohne daß es ihnen einfällt, sie mit den Arbeitern zu teilen; während der Krise dagegen versuchen die Fabrikanten die Verluste auf die Arbeiter abzuwälzen. Die Notwendigkeit von Streiks in der kapitalistischen Gesellschaft ist in den europäischen Ländern von allen so weit anerkannt, daß das Gesetz dort die Durchführung von Streiks nicht verbietet, nur in Rußland gelten noch die barbarischen Antistreikgesetze (von diesen Gesetzen und von ihrer Anwendung werden wir ein andermal sprechen).

Aber die Streiks, die sich aus dem ganzen Wesen der kapitalistischen Gesellschaft ergeben, bedeuten den Anfang des Kampfes der Arbeiterklasse gegen diese Gesellschaftsordnung. Wenn den reichen Kapitalisten die besitzlosen Arbeiter einzeln gegenüberstehen, so bedeutet das die völlige Versklavung der Arbeiter. Wenn diese besitzlosen Arbeiter sich aber zusammenzuschließen, so ändert sich die Sache. Die Kapitalisten haben von ihren Reichtümern keinerlei Nutzen, wenn sie nicht Arbeiter finden, die bereit sind, ihre Arbeit zu den Maschinen und Werkzeugen und Materialien der Kapitalisten hinzuzufügen und neue Reichtümer zu erzeugen. Wenn die Arbeiter einzeln mit den Unternehmern zu tun haben, so bleiben sie richtige Sklaven, die ewig um eines Stückchens Brot willen für einen fremden Menschen arbeiten, bleiben ewig gefügige und keinen Widerspruch wagende Lohnsklaven. Wenn die Arbeiter aber gemeinsam ihre Forderungen stellen und es ablehnen, sich dem zu fügen, der einen dicken Geldsack hat, dann hören die Arbeiter auf, Sklaven zu sein, sie werden Menschen, sie beginnen zu fordern, daß ihre Arbeit nicht nur zur Bereicherung eines Häufleins von Schmarotzern verwendet werde, sondern den Arbeitenden die Möglichkeit gebe, menschlich zu leben. Die Sklaven beginnen zu fordern, daß sie selbst die Herren werden — daß sie nicht so arbeiten und leben, wie die Gutsbesitzer und Kapitalisten es wollen, sondern so, wie die Werktätigen selbst es wollen. Streiks flößen den Kapitalisten eben deshalb stets solchen Schrecken ein, weil sie ihre Herrschaft zu erschüttern beginnen. „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“, heißt es von der Arbeiterklasse in einem deutschen Arbeiterlied. Und in der Tat: Die Fabriken, die Werke, die großen Güter, die Maschinen, die Eisenbahnen usw. usf., alles das sind gleichsam Räder eines einzigen riesigen Mechanismus — dieser Mechanismus erzeugt die verschiedenen Produkte, bearbeitet sie, transportiert sie an den notwendigen Ort. Diesen ganzen Mechanismus bewegt der Arbeiter, der den Boden bebaut, das Erz fördert, in den Fabriken Waren anfertigt, Häuser, Werkstätten, Eisenbahnen baut. Wenn die Arbeiter die Arbeit verweigern, droht dieser ganze Mechanismus zum Stillstand zu kommen.

Jeder Streik erinnert die Kapitalisten daran, daß die wahren Herren nicht sie sind, sondern die Arbeiter, die ihre Rechte immer lauter und lauter anmelden. Jeder Streik erinnert die Arbeiter daran, daß ihre Lage nicht hoffnungslos ist, daß sie nicht allein stehen. Man sehe sich an, welchen gewaltigen Einfluß ein Streik sowohl auf die Streikenden als auch auf die Arbeiter der benachbarten oder naheliegenden Fabriken oder auf die Fabriken des gleichen Produktionszweiges ausübt. In gewöhnlichen, friedlichen Zeiten trägt der Arbeiter schweigend sein Joch, streitet nicht mit dem Unternehmer, äußert nicht Unzufriedenheit mit seiner Lage. Während eines Streiks meldet er laut seine Forderungen an, erinnert er die Unternehmer an alle ihre Tyranneien, fordert er seine Rechte, denkt nicht mehr nur an sich allein und an seinen Lohn — er denkt auch an seine Kollegen, die gemeinsam mit ihm die Arbeit niedergelegt haben und ohne Furcht vor Entbehrungen für die Arbeitersache einstehen. Jeder Streik bringt dem Arbeiter eine Masse von Entbehrungen, und zwar so furchtbare Entbehrungen, daß man sie nur mit den Heimsuchungen des Krieges vergleichen kann: Hunger der Familie, Verlust des Verdienstes, häufig Verhaftung, Ausweisung aus der Stadt, wo er sich eingelebt und Arbeit gefunden hat. Und trotz aller dieser Leiden verachten die Arbeiter diejenigen, die ihre Kollegen im Stich lassen und sich auf einen Kuhhandel mit dem Unternehmer einlassen. Trotz der Not, die ein Streik mit sich bringt, gewinnen die Arbeiter der benachbarten Fabriken stets neuen Mut, wenn sie sehen, daß ihre Kollegen den Kampf aufgenommen haben. „Leute, die so viel erdulden, um einen einzigen Bourgeois zu beugen, werden auch imstande sein, die Macht der ganzen Bourgeoisie zu brechen“, sagte ein großer Lehrer des Sozialismus, Engels, von den Streiks der englischen Arbeiter. Oft braucht nur eine Fabrik in den Streik zu treten — und sofort beginnt eine Reihe von Streiks in einer ganzen Menge von Fabriken. So groß ist der moralische Einfluß der Streiks, so ansteckend wirkt auf die Arbeiter der Anblick ihrer Kollegen, die, sei es auch nur für kurze Zeit, aus Sklaven zu Menschen werden, die den Reichen gleichberechtigt sind! Jeder Streik erweckt in den Arbeitern mit großer Kraft den Gedanken an den Sozialismus — den Gedanken an den Kampf der ganzen Arbeiterklasse für ihre Befreiung vom Joch des Kapitals. Sehr häufig ist es vorgekommen, daß die Arbeiter einer bestimmten Fabrik oder eines bestimmten Produktionszweiges, einer bestimmten Stadt bis zu einem großen Streik fast nichts vom Sozialismus gewußt und nicht an ihn gedacht haben — nach dem Streik aber finden unter ihnen Zirkel und Verbände immer mehr Verbreitung, und immer mehr und mehr Arbeiter werden zu Sozialisten.

Ein Streik lehrt die Arbeiter verstehen, worin die Kraft der Unternehmer und worin die Kraft der Arbeiter liegt, er lehrt sie, nicht allein an ihren eigenen Unternehmer und nicht allein an ihre nächsten Kollegen zu denken, sondern an alle Unternehmer, an die ganze Klasse der Kapitalisten und an die ganze Klasse der Arbeiter. Wenn ein Fabrikant, der sich durch die Arbeit mehrerer Generationen von Arbeitern Millionen zusammengerafft hat, auch zu der bescheidensten Lohnzulage nicht bereit ist oder sogar versucht, den Lohn noch mehr herabzusetzen und, im Falle des Widerstands der Arbeiter, Tausende hungernder Familien auf die Straße wirft, dann sehen die Arbeiter klar, daß die ganze Klasse der Kapitalisten ein Feind der ganzen Klasse der Arbeiter ist, daß die Arbeiter sich nur auf sich selbst und auf ihren Zusammenschluß verlassen können. Sehr häufig kommt es vor, daß ein Fabrikant mit allen Kräften bestrebt ist, die Arbeiter zu betrügen, sich als ihr Wohltäter hinzustellen, seine Arbeiterausbeutung mittels eines lumpigen Almosens, mittels irgendwelcher verlogener Versprechungen zu verschleiern. Jeder Streik macht stets mit einem Schlage diesen ganzen Betrug zunichte, weil er den Arbeitern zeigt, daß ihr „Wohltäter“ ein Wolf im Schafspelz ist.

Ein Streik öffnet aber den Arbeitern die Augen nicht nur über die Kapitalisten, sondern auch über die Regierung und über die Gesetze. Genauso, wie die Fabrikanten sich als Wohltäter der Arbeiter hinzustellen suchen, möchten die Beamten und ihre Handlanger den Arbeitern weismachen, der Zar und die Zarenregierung sorgten für Fabrikanten und für Arbeiter in gleicher Weise, nach Recht und Gerechtigkeit. Die Gesetze kennt der Arbeiter nicht, mit den Beamten, besonders den höheren, hat er nichts zu tun, und deshalb schenkt er alledem häufig Glauben. Dann aber bricht ein Streik aus. In der Fabrik erscheinen der Staatsanwalt, der Fabrikinspektor, die Polizei, häufig auch Militär. Die Arbeiter erfahren, daß sie das Gesetz verletzt haben: das Gesetz erlaubt den Fabrikanten, sowohl sich zu versammeln als auch offen darüber zu sprechen, wie sie die Löhne herabsetzen können, die Arbeiter aber werden, wenn sie unter sich Vereinbarungen treffen, für Verbrecher erklärt! Die Arbeiter werden aus ihren Wohnungen gejagt; die Polizei schließt die Läden, in denen die Arbeiter auf Kredit Lebensmittel erhalten könnten, man versucht, Soldaten auf die Arbeiter zu hetzen, selbst dann, wenn die Arbeiter sich ganz ruhig und friedlich verhalten. Den Soldaten wird sogar Befehl gegeben, auf die Arbeiter zu schießen, und wenn sie Flüchtenden in den Rücken schießen und wehrlose Arbeiter töten, läßt der Zar dem Militär seinen Dank übermitteln (so bedankte sich der Zar bei den Soldaten, die 1895 in Jaroslawl streikende Arbeiter getötet hatten). Es wird jedem Arbeiter klar, daß die Zarenregierung sein schlimmster Feind ist, daß sie die Kapitalisten schützt und die Arbeiter an Händen und Füßen fesselt. Der Arbeiter beginnt zu begreifen, daß die Gesetze nur im Interesse der Reichen erlassen werden, daß auch die Beamten deren Interessen verteidigen, daß man dem arbeitenden Volk den Mund verstopft und ihm nicht die Möglichkeit gibt, von seiner Not zu sprechen, daß die Arbeiterklasse sich notwendigerweise das Streikrecht, das Redit auf die Herausgabe von Arbeiterzeitungen, das Recht auf Teilnahme an einer Volksvertretung, die Gesetze erlassen und ihren Vollzug beaufsichtigen soll, erkämpfen muß. Auch die Regierung selbst begreift sehr wohl, daß Streiks den Arbeitern die Augen öffnen, und deshalb hat sie solche Angst vor Streiks, ist sie bemüht, sie um jeden Preis so schnell wie möglich abzuwürgen.Nicht umsonst erklärte einmal ein deutscher Innenminister, der besonders dafür berüchtigt ist, Sozialisten und klassenbewußte Arbeiter mit allen Kräften verfolgt zu haben, vor den Volksvertretern: „Hinter jedem Streik lauert die Hydra“ (das Ungeheuer) „der Revolution“; mit jedem Streik erstarkt und entwickelt sich in den Arbeitern die Erkenntnis, daß die Regierung ihr Feind ist, daß sich die Arbeiterklasse zum Kampf gegen die Regierung, zum Kampf für die Rechte des Volkes rüsten muß.

Und so gewöhnen die Streiks die Arbeiter an den Zusammenschluß, die Streiks zeigen ihnen, daß sie den Kampf gegen die Kapitalisten nur gemeinsam führen können, die Streiks lehren die Arbeiter, an den Kampf der ganzen Arbeiterklasse gegen die ganze Klasse der Fabrikanten und gegen die autokratische Polizeiregierung zu denken. Das ist der Grund, weshalb die Sozialisten die Streiks eine „Schule des Krieges“ nennen, eine Schule, in der die Arbeiter es lernen, Krieg zu führen gegen ihre Feinde und für die Befreiung des ganzen Volkes, für die Befreiung aller Werktätigen vom Joch der Beamten und vom Joch des Kapitals.

Aber eine „Schule des Krieges“ ist noch nicht der Krieg selbst. Wenn unter den Arbeitern Streiks weite Verbreitung finden, so beginnen manche Arbeiter (und manche Sozialisten) zu glauben, die Arbeiterklasse könne sich auf Streiks und Streikkassen oder -Vereinigungen allein beschränken, die Arbeiterklasse könne durch Streiks allein eine ernstliche Verbesserung ihrer Lage oder sogar ihre Befreiung erreichen. Wenn sie sehen, welche Kraft den Arbeitern ihr Zusammenschluß und selbst kleine Streiks geben, so glauben manche, die Arbeiter brauchten nur einen Generalstreik im ganzen Lande auszurufen, und sie könnten bei den Kapitalisten und der Regierung alles erreichen, was sie wollen. Eine solche Meinung wurde auch von Arbeitern anderer Länder ausgesprochen, als die Arbeiterbewegung erst begann und die Arbeiter noch sehr unerfahren waren. Aber diese Meinung ist irrig. Streiks sind eines der Mittel des Kampfes der Arbeiterklasse für ihre Befreiung, aber nicht das einzige Mittel, und wenn die Arbeiter den anderen Kampfmitteln keine Aufmerksamkeit schenken, so verlangsamen sie dadurch die Entwicklung und die Erfolge der Arbeiterklasse. Es ist wahr, für erfolgreiche Streiks braucht man Kassen, aus denen die Arbeiter während der Streiks unterhalten werden. Solche Kassen gründen die Arbeiter auch (gewöhnlich die Arbeiter einzelner Gewerbe, einzelner Handwerke oder Berufe) in allen Ländern, bei uns in Rußland aber ist das besonders schwierig, weil die Polizei sie aufspürt, das Geld beschlagnahmt und die Arbeiter verhaftet. Natürlich verstehen die Arbeiter es auch, sich vor der Polizei zu verstecken; natürlich ist die Einrichtung solcher Kassen nützlich, und wir wollen nicht den Arbeitern von ihnen abraten. Man darf aber nicht hoffen, daß die Arbeiterkassen, solange sie gesetzlich verboten sind, zahlreiche Mitglieder gewinnen können,- und bei einer kleinen Mitgliederzahl bringen Arbeiterkassen nicht allzuviel Nutzen. Weiter, selbst in den Ländern, in denen Gewerkschaften der Arbeiter frei existieren und sehr große Mittel besitzen — selbst hier kann sich die Arbeiterklasse in ihrem Kampf keineswegs auf Streiks allein beschränken. Es braucht nur eine Absatzstockung in der Industrie einzutreten (eine Krise, wie sie jetzt beispielsweise auch in Rußland naht) — und die Fabrikanten rufen sogar absichtlich Streiks hervor, weil es für sie vorteilhaft ist, ab und zu die Arbeit für einige Zeit einzustellen, weil es für sie vorteilhaft ist, die Arbeiterkassen zu ruinieren. Auf Streiks und Streikvereinigungen allein dürfen sich die Arbeiter daher keinesfalls beschränken. Zweitens führen die Streiks nur dort zum Erfolg, wo die Arbeiter bereits ziemlich klassenbewußt sind, wo sie es verstehen, den Zeitpunkt für Streiks zu wählen, es verstehen, ihre Forderungen zu stellen, wo sie Verbindungen mit den Sozialisten haben, um Flugblätter und Broschüren zu erhalten. Solche Arbeiter aber gibt es in Rußland noch wenige, und es müssen alle Kräfte aufgeboten werden, um ihre Zahl zu erhöhen, um die Arbeitermassen bekannt zu machen mit der Arbeitersache, um sie mit dem Sozialismus und dem Kampf der Arbeiterklasse bekannt zu machen. Diese Aufgabe müssen die Sozialisten und die klassenbewußten Arbeiter gemeinsam übernehmen, indem sie zu diesem Zweck eine sozialistische Arbeiterpartei gründen. Drittens zeigen die Streiks den Arbeitern, wie wir gesehen haben, daß die Regierung ihr Feind ist, daß gegen die Regierung gekämpft werden muß. Und die Streiks haben wirklich in allen Ländern die Arbeiterklasse allmählich gelehrt, den Kampf gegen die Regierungen, für die Rechte der Arbeiter und für die Rechte des ganzen Volkes überhaupt zu führen. Einen solchen Kampf kann, wie wir eben sagten, nur eine sozialistische Arbeiterpartei führen, die unter den Arbeitern richtige Auffassungen von der Regierung und von der Arbeitersache verbreitet. Wir werden ein andermal besonders davon sprechen, wie bei uns in Rußland Streiks geführt werden und wie die klassenbewußten Arbeiter sie nützen müssen. Heute aber müssen wir darauf hinweisen, daß Streiks, wie bereits oben bemerkt, eine „Schule des Krieges“, aber nicht der Krieg selbst sind, daß Streiks nur ein Mittel des Kampfes, nur eine Form der Arbeiterbewegung sind. Die Arbeiter können und müssen von einzelnen Streiks zum Kampf der ganzen Arbeiterklasse für die Befreiung aller Werktätigen übergehen, und sie tun das auch wirklich in allen Ländern. Wenn alle klassenbewußten Arbeiter Sozialisten werden, d. h. Menschen, die eine solche Befreiung anstreben, wenn sie sich im ganzen Lande zusammenschließen, um unter den Arbeitern den Sozialismus zu verbreiten, um die Arbeiter mit allen Mitteln des Kampfes gegen ihre Feinde vertraut zu machen, wenn sie eine sozialistische Arbeiterpartei bilden, die für die Befreiung des ganzen Volkes vom Joch der Regierung und für die Befreiung aller Werktätigen vom Joch des Kapitals kämpft — erst dann wird sich die Arbeiterklasse völlig jener großen Bewegung der Arbeiter aller Länder angeschlossen haben, die alle Arbeiter vereinigt und die rote Fahne entrollt hat mit der Aufschrift ‚Proletarier aller Länder, vereinigt euch!‘“

Quelle: W.I. Lenin, Werke Band 4, S. 305-315.